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Der Wind walkte über das wogende Wasser. Auf seinem unsichtbaren Weg peinigte er die Pflanzen, die sich ihm entgegenstellten, und arbeitete wie Schleifpapier am Lehmboden, der sich in Sand verflüchtigte und der Erde Korn für Korn entwich. Es war ein starker Wind, erbarmungslos mit Mensch und Tier, gleichgültig gegenüber dem Meer, über das er kam und dem Land, auf das er einschrie. Tag und Nacht wehte er ohne Unterlass, scherte sich nicht im Geringsten um die Gesetze der Thermik, als wäre er nicht Teil der Natur, der er so unvermittelt entsprungen war.
Es war August in Tarifa. Das kleine Pueblo Blanco, welches weit in die Meerenge zwischen Europa und Afrika hineinragte, war in Staub gehüllt. Die Sonne stand bereits im Zenit und verbrüderte sich mit dem Wind, um die Menschen in die Häuser zu treiben, wo die Hitze ihnen zu schaffen machte und jeder sich danach sehnte, es werde endlich Abend und ein kühles Bier würde für eine gewisse Linderung sorgen. Benedikt schaute aus dem Fenster seines kleinen Apartments, welches im dritten Stock eines Mehrfamilienhauses am Rande der Altstadt lag. Sein Blick verlor sich in der Ferne, auf dem Meer, wo die Schaumkronen sich abwechselten, zusammenbrachen, wieder aufbäumten, um erneut von einer Welle begraben oder neu geboren zu werden. Es war später Nachmittag, und der Ort am Ende Europas lag leblos unter ihm. Die Menschen waren für kurze Zeit von ihrer Arbeit zu ihren Familien zurückgekehrt, aßen oder schliefen, bevor sie an ihre Plätze im Organismus der Wirtschaft zurückzukehren hatten. Auch Benedikt hatte sich den lokalen Gepflogenheiten angepasst und hielt für gewöhnlich eine kurze Siesta ab, wenn ihn die Müdigkeit in der Mittagshitze übermannte. Doch heute war er wach geblieben, denn er hatte noch zu packen. Morgen würde er endlich einmal wieder aus Tarifa herauskommen. Fast ein halbes Jahr hatte er es nach seiner Wiederankunft aus Hamburg nicht mehr verlassen. Die Enge der Altstadt, die immer gleichen Bars, dieselben Menschen, denen man morgens beim Gang zum Bäcker begegnete, die wenigen Freunde, die er regelmäßig traf, all das hatte ihn träge und stumpfsinnig gemacht. Seine Sinne schienen eingefallen, vertrocknet wie der vom Wind ausgedörrte Boden auf den Feldern, nicht blind, sondern eher wie die Fühler eines Insekts, die an der Spitze verkümmert, noch imstande sind das Hindernis zu erkennen, jedoch nicht mehr seine Struktur und Bedeutung, unfähig, seine Gedanken in eine neue Richtung zu lenken. Doch Benedikt wusste, dass es noch einen anderen Grund für seine Reise gab. Er wollte das Band zerschneiden, welches sich fest um ihn und den Ort seiner Wahl gelegt hatte, ihn einschnürte, ihm die Luft zum Atmen nahm und dessen schwarze Farbe nur in seinem Kopf existierte. Und wenn es sich nicht zerschneiden ließ, so wollte er sich doch zumindest herauswickeln, Lage um Lage, Schlinge um Schlinge abstreifen und die Trauer, die es an ihn fesselte, entweichen lassen. Und weil die Trauer sich an ihn gebunden hatte so wie er sich an diesen Ort klammerte, sah er es als das Beste an, Tarifa für eine Weile zu verlassen.
…
Der Verkehr war wie immer, brutal, laut und verwirrend, die Straßen zum Flughafen voller Autos, Busse und Taxen, die ineinander verschlungen, einer Python gleich, die Adern der Metropole abschnürten. Berlin war vollends erwacht, atmete noch oder schon wieder schwer, und die Straßenbäume starrten regungslos auf den Asphalt. Die Nacht hatte kaum Abkühlung gebracht, kein Windhauch regte sich. Der Berufsverkehr mischte sich mit den Kindern auf dem Weg zur Schule und den Rentnern, die ihre Einkäufe früh erledigt haben wollten. Irgendwo hinter den Häuserschluchten der Stadt war die Sonne aufgegangen, doch niemand interessierte sich für sie.
Johanna hatte sich den Luxus einer Taxifahrt erlaubt, um ihren schweren Koffer nicht über diverse S-Bahnhöfe schleppen zu müssen. Zudem hatte sie noch die Geige dabei. Der Taxifahrer machte keine Anstalten, ihr ein Gespräch aufzudrängen und war mehr als genug damit beschäftigt zwischen den Spuren der Autobahn hin- und her zu wechseln, immer auf der Suche nach dem Sekundenvorteil, den es ihm verschaffen könnte. Johanna besaß kein Gespür mehr für die Hektik der Großstadt. Die Farben und Formen der Autos flossen ineinander über und an ihr vorbei. Die Gesichter der Menschen, die sich auf den Bürgersteigen mal geordnet, mal chaotisch aneinander vorbeidrängten, schienen sich nicht voneinander zu unterscheiden. Ihr Blick war auf etwas anderes gerichtet oder besser gesagt, er war auf gar nichts gerichtet, und sie hätte auch genau so gut ihre Augen schließen können. Ihre rechte Hand hielt den Geigenkasten fest, hielt sich an ihm fest. Das Taxi passierte die Gedächtniskirche und den Kudamm, bog dann auf den Hohenzollerndamm ein, um auf kürzestem Wege in Richtung Flughafen Tegel zu fahren. Die Kastanienbäume, die die Straße säumten, führten bereits vergilbte Blätter, denen der Stadtsommer, die Abgase und die Trockenheit viel zu früh das Leben entzogen hatten. Am Flughafen angekommen, gab sie dem Taxifahrer seinen Lohn plus zwei Euro Trinkgeld, obwohl sie irgendwo gelesen hatte, dass man Taxifahrern kein Trinkgeld gibt.
Mit einer Stunde Verspätung hob der Flieger vom Rollfeld ab. Johanna flog nicht gerne. Es war nicht so, dass sie Flugangst hatte, vielmehr fühlte sie sich unwohl, fast unnatürlich, sich auf derartige Weise von der Welt abzuheben, sich über sie zu erheben. Aus ähnlichem Grund hatte sie auch niemals den Wunsch verspürt, tauchend irgendein Korallenriff in der Südsee zu erkunden. Der Mensch gehöre auf die Erde, dachte sie, nicht unter sie und auch nicht über sie, dort wo die Vögel und Fische ihr Reich hatten. Andererseits erschien ihr die Reise nach Spanien mit dem Zug zu beschwerlich für ihre derzeitige Verfassung. Sie wollte so schnell wie möglich in Granada ankommen, der abrupte Wechsel in eine andere Stadt kam ihr richtig und besser vor als eine stunden-, wenn nicht tagelange Reise, bei der die Erinnerung nur langsam verblich und so vieles auf dem Weg noch für eine gewisse Weile der Heimat ähnelte. Das Flugzeug hingegen war imstande, einen binnen weniger Stunden in eine vollkommen andere Landschaft, Sprache und Kultur zu verpflanzen. Es nahm keine Rücksicht auf die Gefühle der Reisenden, es bewegte sich unmenschlich schnell zwischen den Zeiten hin und her, es war für sie das Sinnbild kalten Fortschritts und damit genau das, was sie in diesem Moment dringend benötigte.
Die Geige lag stumm neben ihr, auf dem freien Sitz am Gang. Das Instrument hatte sie begleitet, seitdem sie 8 Jahre alt war und ihre Kindergeige abgelegt hatte. Als Kind hatte sie von ihren Eltern so lange Geigenunterricht gefordert, bis diese ihr den Wunsch erfüllten. Sie hatte schon in frühen Jahren einen unerklärlichen Ehrgeiz entwickelt und übte zum Erstaunen ihrer Eltern völlig aus eigenem Antrieb heraus. Mit den Jahren war die Geige zu ihrer Schwester geworden, und wenn ihr einmal alles gelang bei einem Stück, dann vielleicht auch zu ihrer Zwillingsschwester. Der Wechsel der Gefühle während der Pubertät, der erste Freund, ihr Kind, alles wäre undenkbar gewesen ohne ihr Zutun, ohne ihre Stimme, die mit der ihren über die Jahre zu einem nicht enden wollenden Dialog verschmolzen war. Ihr Kind, dachte sie erneut, und erstarrte bei diesem Gedanken während die Flugzeug-Crew alles für die Landung vorbereitete.
…
Der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Benedikt besaß kein Auto, und die Alternative wäre eine Fahrt mit drei Bussen gewesen. So fiel es ihm leicht sich für die teurere Bahnfahrt zwischen Algeciras und Granada zu entscheiden. Zudem hatten ihm spanische Freunde erzählt, dass sich der Ausblick lohnen und der Wechsel der Landschaften reizvoll anzuschauen sein würde. Das Abteil war fast leer. Außer ihm saßen im Wagon noch eine Familie bestehend aus Mutter, Vater und Kind an einem der wenigen Tische sowie ein junges Paar, das seine großen Reiserucksäcke in den Gang gestellt hatte. Er packte sein Bocadillo aus, welches er sich in aller Eile noch im 24-Stunden-Laden gekauft hatte, bevor er Tarifa verlassen hatte. Es roch intensiv nach dem Belag aus Salami und Käse, so dass er seinen Hunger gleich noch viel mehr spürte. Er war dünn geworden in den letzten Monaten, hatte immer weniger gegessen, vielleicht auch, weil er kaum noch Sport gemacht hatte. Aber jetzt hatte er Appetit auf das Baguette und aß so schnell er konnte.
Der Zug nahm nur langsam Fahrt auf, ließ die Ausläufer von Algeciras hinter sich, passierte San Roque und Jimena, nicht ohne an jeder Station zu halten. Als er sich nach über einer Stunde Ronda näherte, zwangen ihn die Steigung und Kurven erneut zu gemächlicher Fahrt. Er fuhr nun am Fuße eines lang gestreckten und engen Tals, in dessen Abgrund sich ein Fluss schlängelte oder das was davon in der langen Trockenzeit des Sommers übrig geblieben war. An seinen Ufern wuchs üppiger Oleander in weiß und lila, Pinien und die ein oder andere Korkeiche ragten aus einem grünen Dickicht bestehend aus Büschen, Gräsern und Dornen hervor. Das Zirpen der Zikaden drang durch die offenen Fenster bis in das Abteil hinein und übertönte bisweilen das Rasseln der Klimaanlage. Benedikt drückte sein Gesicht ganz eng an die Scheibe, um den Himmel über den steilen Wänden links und rechts der Trasse sehen zu können. Fünfzig, vielleicht siebzig Meter tief hatte sich der Fluss im Laufe der Jahrtausende in den Fels geschnitten. Die nackten Felswände schienen sich dafür entschieden zu haben, einen Kontrast zum Urwald des Flusstals bieten zu wollen. Sie waren so steil, dass sich kaum eine Pflanze an ihnen festklammern konnte. Gesteinsschichten und Farben wechselten sich ohne Unterlass ab, manchmal sah es so aus als schaute man auf Sedimente, die einmal den Meeresboden geformt hatten, nach außen gekehrt, umgestülpt und wieder verschlungen von einer Erde, der wir Menschen ganz gleichgültig sind.
Benedikts Blick verkürzte sich, bis er nur noch sich selbst in dem spiegelnden Fenster neben sich sah. Vor mehr als fünf Jahren war er mit Maria ebenfalls mit diesem Zug nach Ronda gefahren. Nur für einen Tag. Aber es war der Tag, an dem er sie zum ersten Mal geküsst hatte, auf der Puente Viejo, die die Schlucht von Ronda überspannte. Es war der Anfang ihrer gemeinsamen Reise, und es war ein guter Anfang. In der ersten Zeit war sie ihm noch fremd, auf anziehende Art und Weise, so exotisch und begehrenswert. Alles war so einfach, so selbstverständlich, trotz seines schlechten Spanisch. Es war als hätte er sie wortlos zum Tanz aufgefordert und sie hatte sich von ihm führen lassen, sich an ihn geschmiegt, eingeatmet, wenn er atmete und ausgeatmet, wenn er es tat. Bald schon wurde sie wurde für ihn zu einem Hafen an einer unbekannten, fremden Küste, verkörperte mit ihrer Sinnlichkeit seine neue Heimat, in die er hineinzuwachsen gedachte. Doch das starke Band zwischen ihnen während der ersten Monate, die Intensität ihres Zusammenseins verwandelte sich langsam und unmerklich ohne jedoch schwächer oder unbedeutender zu werden. Als hätte sie einen Kokon um ihn herumgesponnen, das Netz einer Spinne in dem er gerne saß, wenngleich seine Angst gefressen zu werden stetig zunahm. Er war in ihrem Bann, vielleicht viel zu lange, musste er sich eingestehen, doch er hätte sich damals unmöglich aus eigener Kraft befreien können. Er hätte es auch nicht gewollt.
…
Es waren nicht die Palmen, die die Straßen von Malaga säumten, nicht die unwirklich wie aus dem Meeresboden emporwachsenden Berge der Sierra zwischen Malaga und Granada mit ihren Geröllhängen und Schieferformationen, es war nicht die Hitze, die einem beim Verlassen des Flughafens entgegenschlug wie eine heiße, nasse Wolldecke, es waren nicht die Menschen, deren Haare zumeist schwarz oder wenigstens dunkel waren, wenn auch im Falle der Frauen, bisweilen gefärbt, es waren nicht deren manchmal fremdartige Gesichter, deren arabischer Einschlag gepaart mit stolzem Blick und selbstbewusster Haltung ihnen eine profane Würde verlieh, es war auch nicht der Anblick Granadas, wie es auf einer Hochebene umsäumt von in der Ferne in Pastellfarben verschwindenden Bergen vor ihr lag und im Dunst der aufsteigenden Feuchtigkeit vor sich hinschwitzte, was ihr das Gefühl gab, endlich in der Fremde zu sein. Es war das Licht. Das Licht, welches von einer am immerblauen Himmel stehenden Sonne ausgesandt wurde, sämtliche Farben, Formen und deren Schatten noch intensiver hervortreten zu lassen, als würden all diese irdischen Dinge einen Gottesdienst zu seinen Ehren feiern. Das Licht, welches hier in den Namen von Straßen, Heiligen und Familien verehrt wurde wie vor tausenden Jahren die Menschen die Sonne angebetet hatten, und welches Johanna nun mit seinen wohlwollenden und warmen Fingern berührte. Sie war in Granada angekommen.
Ihr Hotel lag an der Gran Vía am Fuße des Stadtteils Albaicin. Sie packte die Sachen aus ihrem Koffer aus, legte die Kleidung in den geräumigen Kleiderschrank und verstaute das mitgebrachte Obst in dem kleinen Kühlschrank, der zur Mini-Bar gehörte. Die Geige legte sie auf den Schreibtisch, öffnete den Kasten und vergewisserte sich, dass es ihr gut ging und sie keinen Schaden genommen hatte. Danach duschte sie ausgiebig, wusch sich die Erschöpfung der Reise vom Leib und rasierte ihre Beine. Lange hatte sie das nicht mehr getan. Warum gerade jetzt? Sie wusste es nicht, es passierte einfach, und die alte Routine bedurfte keiner Anleitung. Ihr Einwegrasierer strich über ihre Waden, es ziepte ein paar Mal, wenn sich die Haare in den Klingen verfingen, doch sie nahm kaum Notiz davon. Mit den Händen strich sie hinterher, um das Ergebnis zu überprüfen, bis sie zufrieden war. Sie hatte in den ersten Monaten nach dem Tod Hannahs das Gefühl, als wären ihr ein oder mehrere Gliedmaßen amputiert worden. Eigentlich war es nicht einmal ein Gefühl, sie spürte ihre Beine oder Arme bisweilen tatsächlich nicht mehr. Sie konnte nicht aufstehen, sie konnte ihrem Körper keine Befehle mehr geben, die er anstandslos befolgt hätte. Sie lag einfach nur auf dem Teppichboden im Wohnzimmer und starrte an die Stuckdecke, stundenlang, ein Rumpf, ein gestrandeter Delfin, verdammt zum verrotten, unfähig jemals wieder ins Meer zurückzukehren, in dem er so elegant geschwommen war. Viel später erst entwickelte ihr Körper eine neue Mechanik, tat, was sie von ihm wollte und sicherte so ihr Überleben. Doch er fühlte sich nicht mehr vertraut an, nicht mehr wie zuvor als sie nicht einmal in der Lage gewesen wäre, ihn von ihrer Persönlichkeit gedanklich abzuspalten. Er fühlte sich an wie ein Gestell, an das ihre Seele gegurtet worden war, ein notwendiges Übel, das es am Leben zu erhalten galt. Und doch war es einmal ihr Körper, war sie es einmal als Ganzes gewesen. Vielleicht war das der Grund, warum sie ihre Beine so lange nicht mehr rasiert hatte.
Heute Abend wollte sie ein paar Tapas essen, um morgen in aller Früh die Stadt um sie herum zu erkunden. Morgen Abend dann würde sie ihre Geige mitnehmen und irgendwo spielen, wo sie niemand hörte.
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Benedikt war bei Neil untergekommen, einem Freund, bei dem er sich schwertat, ihn Freund zu nennen. Doch er kannte ihn nun schon so viele Jahre, dass es keine Frage gewesen war, ob er bei ihm übernachten sollte oder nicht. Und mehr als zu übernachten hatte er auch nicht vor, denn die Altbauwohnung im Stadtteil Realejo war eine dunkle Höhle, vollgestopft mit den Paraphernalien des gewohnheitsmäßigen Kiffers und Teilzeit-Alkoholikers, in der er es unmöglich mehr als ein paar Stunden ausgehalten hätte. Die ganze Wohnung war in ein Grün-Gelb-Braun getaucht, das einem aus dutzenden afrikanischen Stammesmasken, karibischen Muschelpfeiffen, Cannabis-Abbildungen und indischen Wandteppichen entgegenschlug. Dazwischen türmten sich Trommeln, Tropenholzschalen, Räucherstäbchen-Altare und das ein oder andere ausgestopfte Tier, welches Neil von seinen Reisen in die Erkenntnis mitgebracht hatte. Benedikt hatte Neil in Tarifa kennengelernt als dieser dort noch wohnte. Was sie miteinder verband war die Liebe zu unmöglichen und unbekannten Orten in der Wildnis des Nationalparks Alcornocales, die sie gemeinsam ausfindig machten, erwanderten und erstiegen, um dann dort die Nacht zu verbringen und in den Sternenhimmel zu schauen. Schon damals war neben allen guten Einfällen, die Neil zugegebenermaßen manchmal hatte, seine Affinität zu vollkommen frei erfundenen Geschichten aus seinem Abenteurer-Leben schwer auszuhalten. Seine Lieblingserzählung war die immer wieder abgewandelte Schilderung wie er nach Tarifa gelangt war, zu Fuß natürlich, tausende Kilometer quer durch Europa, beseelt und sendungsbewusst wie Jesus vor seiner Bergpredigt. Mal waren es zweitausend Kilometer, die er zurückgelegt hatte, mal viertausend. Mal kam er allein, dann wieder mit zwei hübschen jungen Damen im Gefolge, mal war er vor einer unfreiwilligen Vaterschaft geflohen, mal auf der Suche nach der Frau seiner Träume. Das alles machte ihn nicht unsympathisch, dachte Benedikt, aber unentwegt in seiner Nähe konnte es sich jedenfalls heute nicht aufhalten. Er beschloss, dem penetranten Geruch von alten Kippen, halbleeren Bierflaschen und den Überresten diverser Drogen-Sessions zu entgehen und am Nachmittag die Kathedrale von Granada zu besuchen, die die Gebeine der Reyes Catolicos beherbergte.
Nachdem er sein Kulturprogramm absolviert und danach noch mit Neil und einigen seiner Freunde bis nach Mitternacht bei Tapas und Bier zusammengesessen hatte, machte Benedikt sich noch einmal allein auf zu einem nächtlichen Spaziergang durch die Innenstadt. Granada lag jetzt im Hochsommer in einer Art Dornrößchenschlaf. Viele Bars und Restaurants blieben den ganzen Monat über geschlossen, denn das Leben hatte sich an die Badeorte der Küsten Spaniens verlagert. Nur wenige Passanten begegnetem ihm auf seinem Weg, sie tuschelten zumeist leise und intim miteinander, bemüht, die Stille der Nacht nicht zu stören. Als er um die nächste Ecke bog, nahm er plötzlich Musik wahr, der feine Ton eines Cellos oder einer Geige drang an sein Ohr. Er lief auf das Portal der Kirche Santo Domingo zu und war sich nun sicher, den Klang einer Geige ausmachen zu können. Unter den gotischen Bögen und Säulen im Stile der Renaissance der Anfang des sechzehnten Jahrhunderts errichteten Kirche stand ein junges Mädchen oder doch eher eine junge Frau, die beim Spielen manchmal hinter einer der Säulen verschwand, langsam darum herumlief und wieder hervortrat. Ihre Schuhe hatte sie ausgezogen, barfuß tänzelte sie mal vor, mal zurück und wiegte sich zur Musik. Sie war ganz allein, doch ihre Musik strömte aus dem Portal auf den Platz wie das Netz, das ein Fischer auswarf, wenn er seinen Tag begann, und fing Benedikt ein. Erst blieb er regungslos am Rande des Platzes stehen, hatte Sorge, dass sie ihn bemerkte. Doch bald schon fanden sich andere Nachtschwärmer ein, die wie er einfach stehenblieben, sich umarmten oder auf eine Bank oder den Vorsprung einer Treppe setzten. Nun traute sich auch Benedikt weiter in den Platz hineinzugehen, langsam, bedächtig, geräuschlos, um ihr Spiel nicht zu übertönen. Er lehnte sich an eine Mauer an und wagte nur manchmal, zu ihr hinüberzuschauen. Sie spielte Vivaldi, Le quattro stagioni in Auszügen, und drückte sich nicht vor den schwierigen Passagen. Ihr Spiel war nicht fehlerfrei, aber so voller Ausdruckskraft und Willensstärke, so anrührend und bewegend, dass Benedikts Herz bisweilen spürbar schlug. Mit ihren dunklen, schulterlangen Haaren, ihrer hohen Stirn, die zuweilen in Falten gelegt war, wenn der Bogen eine schnelle Kadenz über den Saiten vollführte, ihrer fast weißen Haut, die noch nicht viel andalusische Sonne gesehen haben konnte, und ihrer Ernsthaftigkeit erschien sie Benedikt so schön und anmutig wie die Musik, die das Instrument in ihren Händen hervorbrachte.
Benedikt hatte jedes Gefühl für die Zeit verloren, aber es musste schon weit nach ein Uhr sein. Die letzten Zuhörer waren weitergezogen, und es wurde merklich frischer unter dem klaren Sternenhimmel. Nur er war noch übrig geblieben. Die unbekannte Geigerin zog sich ihre Schuhe an und verstaute ihr Instrument im Geigenkasten. Bevor Benedikt sich überlegen konnte, wann der beste Moment gekommen war, sich zu verdrücken, kam sie schnurstracks auf ihn zu. Sie lächelte, und als sie auf wenige Meter herangekommen war, fragte sie ihn: “Du bist auch Deutscher, oder? Hat dir mein Spiel gefallen?” Benedikt brachte nur ein Wort hervor “Ja.”. Sie lächelte immer noch. Dann endlich sagte er mit belegter Stimme: “Ich meine, es war sehr ungewöhnlich und deine Musik wunderbar und bewegend.” “Danke für die Blumen!”, sagte die junge Frau. Jetzt lächelte auch Benedikt. “Hast du Lust, morgen mit mir etwas zu frühstücken?”, fragte sie. Benedikt war überrascht, willigte jedoch sofort ein. Sie verabredeten sich am Plaza de Bib-Ramla für zehn Uhr am nächsten Tag.
…
Die Luft aus den nahegelegenen Bergen hatte Granada in der Nacht abgekühlt. Als Johanna mit ihrer Geige um kurz vor zehn Uhr ihr Hotel verließ atmete sie tief und bewusst ein, nahm den Geruch des Neuen noch ein letztes Mal intensiv wahr, bevor er auch für sie zur Alltäglichkeit wurde. Ihr Weg führte vorbei an der mächtigen Kathedrale, auf deren Treppenstufen vor dem Eingangsportal die Touristen den Schaustellern und Kleinkünstlern zuschauten. Mit ein wenig Verspätung traf sie am Treffpunkt ein, wo Benedikt bereits im Schatten einer Platane auf sie wartete. Er begrüßte sie mit zwei Küssen auf ihre linke und rechte Wange und ignorierte dabei ihre ausgestreckte Hand. “Ich heiße übrigens Benedikt”, stellte er sich vor. “Johanna”, erwiderte Johanna.
Sie suchten sich einen Tisch vor einem der vielen um den Platz herum angeordneten Cafés, der im Schatten lag und doch gute Sicht auf das Treiben vor ihnen bot. Es gab Churros und Benedikt erklärte Johanna, was es damit auf sich hatte und dass sie am besten schmeckten, wenn man sie einfach in den Kaffee stippte. Johanna erzählte von ihrer Arbeit im Museum in Berlin, nicht jedoch, dass sie schon seit zwei Jahren krank geschrieben war. Von Benedikt wollte sie wissen, wie lange er schon in Spanien lebte und warum er nicht mehr nach Hamburg zurückgekehrt war.
“Warum bist Du gerade in Granada?”, frage Johanna.
“Nun, wir haben seit Wochen Levante in Tarifa. So nennt man den aus östlicher Richtung kommenden Wind, der sich durch die Meerenge von Gibraltar zwängt und der dann mit unverminderter Kraft auf Tarifa trifft. Im Sommer ist es ein heißer Wind, der Sand aus der Sahara mitbringt und alle verrückt macht. Ich habe es wohl einfach nicht mehr ertragen.” Benedikt lächelte dabei. “Wir werden auch die locos genannt, die Verrückten, weil es sonst keiner in diesem Ort aushält, sagt man.”
“Und du, bist du auch verrückt?”, erwiderte Johanna erwartungsgemäß.
“Es hält sich in Grenzen, aber manchmal vielleicht schon.” Er machte eine Pause. “Wenn ich verliebt bin zum Beispiel, dann kann ich mich ganz schön engagieren. Vielleicht zu viel manchmal. Für mich. Und auch für sie.”
“Und wann warst du das letzte Mal so richtig verliebt?”, frage Johanna.
“Oh, das ist schon eine Weile her.” Benedikt schaute auf den Tisch.
Und dann erzählte er so sachlich wie möglich von seiner Beziehung zu Maria. Johanna schaute ihn dabei an, doch er konnte ihren Blick kaum erwidern und hob nur selten den Kopf. Sie spürte, dass die Geschichte kein gutes Ende nehmen würde, dennoch fragte sie ihn, ob er noch mit Maria zusammen sei.
“Nein, das ist schon lange vorbei.”, sagte Benedikt mit gefasster Stimme. “Sie hat mich ziemlich lange betrogen und als sie endlich den Mut hatte es mir zu gestehen oder zumindest meine Fragen zu beantworten, da brach für mich eine Welt zusammen. Das hört sich klischeehaft an, aber es stellte all die Jahre mit ihr in Frage, all die gemeinsamen Erlebnisse und Gespräche. Alles eine große Lüge oder doch wenigstens nur ein Teil der Wahrheit. Es war, als wäre es alles nicht geschehen oder an anderem Ort noch einmal genauso passiert. So als würden wir mehrfach in diesem Universum existieren. Quantenmechanik, weißt du.” Er hielt inne für einen Moment, um dann hinzuzufügen: “Also, wie du vielleicht merkst, ist es auch wieder nicht vorbei, jedenfalls nicht für mich. Ich versuche das alles zu vergessen, vielleicht auch hier in Granada. Ich weiß gar nicht, warum ich das einer fast fremden Frau erzähle, es tut mir Leid.” Benedikt Augen waren glasig.
Johanna sprach sehr leise als sie nach einer langen Pause anfing von sich zu erzählen. “Das muss dir nicht Leid tun. Es ist gut, dass du darüber reden kannst. Ich konnte lange nicht sprechen. Ich habe mich nicht einmal mehr aus meiner Wohnung herausgetraut. Meine, “ und hier zögerte sie merklich, “meine Tochter.” Fast flüsternd sprach sie ihren Namen aus. “Meine Tochter Hannah ist vor zwei Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen.”
Benedikt sah sie an, fragend, forschend, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen. Diesmal war sie es, die in eine andere Richtung schaute, irgendwo auf die Dächer der umliegenden Häuser oder in den Himmel.
“Ich habe lange darüber nachgedacht, warum wir trauern, warum die Trauer mich so fest im Griff hatte und immer noch hat. Ist sie nicht der Nachhall unserer tiefen Bindung an einen anderen Menschen, das tausendfache Echo seiner Vergangenheit, die nicht vergehen will? Ist sie dazu da, uns über den Verlust hinweg zu helfen oder uns zu zerbrechen? Macht sie uns stärker oder stumpfen wir unter ihrem Einfluss mit der Zeit einfach nur ab? Ich kam mir vor wie eine Schlange, die viel zu lange schon von einer vergangenen Mahlzeit lebte und die sich, als der Hunger spürbar wird, einrollt und anfängt ihren eigenen Schwanz zu verschlingen.”
Benedikt bemerkte wie Johanna ihre Hand auf den Geigenkasten legte, ihn beinahe streichelte oder doch zumindest seine von diversen Reisen geschundene Oberfläche abtastete als würde sie seine Wunden heilen wollen. “Ich komme mir sehr klein vor”, sagte er. “Dass ich dich mit meinem Selbstmitleid vorhin belästigt habe. Es war nur Liebeskummer. Ich glaube, man kann das nicht vergleichen mit dem, was du durchgemacht hast.” Diesmal schaute er Johanna in die Augen und sie in die seinen. Dann fuhr Johanna fort.
“Es kann für mich keinen Neuanfang geben. Aber es konnte auch nicht mehr so weitergehen wie bisher in Berlin. Ich entschloss mich von einem auf den anderen Tag zu dieser Reise. Ich weiß nicht einmal, ob es eine Reise ist und ich noch einmal nach Berlin zurückkehren möchte, aber als das hat es angefangen. Jetzt möchte ich wissen wie es weitergeht. Ich bin froh, dass ich dich hier getroffen habe.” Dann tunkte sie den letzten Rest ihres Churros in den Kaffee und schwieg.
…
Nach dem gemeinsamen Frühstück hatten sich Johanna und Benedikt fast wortlos voneinander verabschiedet. Es gab keine erneute Verabredung zwischen ihnen, doch Johanna hatte erwähnt, dass sie in der Nacht abermals irgendwo Geige spielen wolle und sich wohl einen der Plätze mit Blick auf die Alhambra auf dem Albaicin aussuchen würde. Für den Nachmittag hatte sie ein Ticket für die Alhambra besorgt, deren Zugang beschränkt war und für deren Besuch sie mehrere Stunden eingeplant hatte.
Bereits um drei Uhr stieg sie hinauf auf den Hügel, dessen mehrere hundert Meter langes Hochplateau die aus verschiedenen Epochen stammenden Bauten der Burganlage beherbergte. Es war heiß um diese Tageszeit, und der Schweiß rann ihr den Rücken hinunter als sie endlich den Aufstieg zum Judentor bewältigt hatte. Noch tummelten sich nicht zu viele Touristen auf den Wegen und Plätzen im Innern der Anlage, doch zum Abend hin würde es sicher voller werden. Sie wollte zunächst die an einem Ende gelegenen Gärten und den Sommerpalast der Sultane erkunden, in der Hoffnung, ein wenig im Schatten flanieren zu können. Johanna begeisterte sich für die traditionell gefertigten Wege aus großen, eingebetteten Kieselsteinen, gewonnen aus den Flüssen Darro und Genil. Doch vor allem hatten es ihr die üppigen Blumenbeete und Heckenpflanzungen angetan, die für mannigfaltige Gerüche und eine angenehme Kühle sorgten. Zwischen ihnen surrten die Insekten hin und her, sogen sich mit Nektar voll, um ihn in ihre Kolonien zu tragen. Das ein oder andere Eichhörnchen hangelte sich von einer Pinie zur anderen oder flüchtete sich in die buschigen Zypressen. Sie hatte gelesen, dass dieser Teil der Alhambra nur wenig mit dem Originalzustand zu tun hatte und im Laufe der Jahrhunderte stark verändert worden war, bis er für lange Zeit brach lag. Die Gebäude des Palastes waren von solider Schlichtheit, der Blick von seinen Fenstern auf den gegenüberliegenden Albaicin jedoch atemberaubend und sie verharrte eine ganze Weile in der Brise, die durch die Maueröffnungen eintrat und die entfernten Geräusche der Stadt herüberwehte.
Dann machte Johanna sich auf den zwanzigminütigen Fußweg zum Zentrum der Alhambra, dort wo die Nasriden-Paläste lagen und der älteste Teil des Ensembles, die Alcazaba. Der Eintritt in die Paläste war reglementiert, so dass jede halbe Stunde nur einige hundert Besucher hineingelassen wurde. Ihre Eintrittskarte vermerkte fünf Uhr als Termin. Als sich die Schlange, in die sie sich eingereiht hatte, endlich in Bewegung setzte, war Johanna eine der Letzten, die in die Paläste eintrat. Die vielfältigen noch erhaltenen Arabesken auf den Wänden begeisterten sie und sie hatte die ganze Zeit das Gefühl auf eine Partitur zu schauen, ineinander verschlungene Noten, die eine nicht abreißen wollende Melodie beschrieben.
Sie verharrte eine ganze Weile vor dem von zwölf Löwen getragenen Brunnen und schaute auf die Inschrift des arabischen Dichters: Selig ist das Auge, das diesen Garten der Schönheit sieht. Und in Gedanken fügte sie hinzu: Selig ist das Ohr, das diesen Klang der Schönheit hört. Zuletzt durchschritt sie noch zügig den Königssaal, der ihr nicht besonders imposant, eher filigran und bescheiden vorkam und der von den anderen Besuchern so belagert war, dass sie es vorzog, zum Ausgang zu gehen.
Bevor sie sich auch noch die Festungsanlage der Alcazaba anschaute, setzte sie sich in den Schatten einiger Zypressen und aß einen mitgebrachten Apfel. Noch immer hatte sie die Melodie in den Ohren, die sie sich in den Palästen ausgedacht hatte. Musik hatte sie schon als Kind zutiefst berührt, und heute wie damals hatte sie keine wirkliche Erklärung für das Wunder, das Musik am Menschen und besonders an ihr bewirkte. Die Fähigkeit, Harmonien zu empfinden, erfüllte keinen Zweck. Das Wohlgefühl, das Musik auszulösen vermochte, diente nicht dem Überleben des Menschen wie sein Verstand, seine sozialen Fähigkeiten oder sein visuelles Vermögen. Und doch hatte sie beim Hören von Musik und vor allem beim Spiel mit ihrer Geige die vollständige Gewissheit, an die Wurzel ihrer menschlichen Existenz heranzureichen. Jetzt, wo Hannah nicht mehr war, blieb ihr nur die Musik, um mit ihr zu sprechen, zu erfahren wie es ihr ging und ihr zu sagen, wie sehr sie sie vermisste.
Nachdem sie auch die Alcazaba in der untergehenden Sonne besichtigt hatte, ging sie erschöpft, aber zufrieden zurück zu ihrem Hotel. Sie würde noch einmal duschen, bevor sie in die Nacht aufbrach, um erneut mit ihrer Geige aufzutreten.
…
Benedikt war den ganzen Nachmittag über in Neils Wohnung geblieben, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen. Aber eines wusste er ganz genau, nämlich, dass er Johanna heute Abend wiedersehen wollte. Nur, wo würde er sie finden? Er hatte in der Wohnung einen Plan von der Innenstadt Granadas gefunden und prägte sich nun die Plätze ein, die es in Albaicin gab. Er würde eben einfach einen nach dem anderen absuchen, in der Hoffnung auf sie zu treffen. Und wenn nicht? Dann würde er es auch überleben, dachte er sich. Ja, überleben würde er, überlebt hatte er bisher noch immer. Morgen in aller früh ging sein Zug zurück, vielleicht wäre es auch besser so.
Von der Plaza Nueva aus stieg er hinauf in den Bezirk, der gegenüber der Alhambra auf einem Hügel lag und die beste Aussicht auf die Burganlage bot und in dem er hoffte, Johanna wiederzutreffen. Die Gassen waren ein mittelalterliches Gewirr aus engen Wendungen, Treppen und gedrungenen Häusern, welches immer weiter hinauf führte, bis es an verschiedenen Stellen den Blick auf die Stadt und die die Paläste freigab. Es war bereits dunkel. Nur wenige Straßenlaternen oder beleuchtete Fenster in den Häusern trübten den Blick in den Sternenhimmel, und Benedikt sah immer wieder hinauf, die Sterne am fremden Firmament bewundernd. Es war fast unwirklich still, kaum einmal dass er anderen Spaziergängern begegnete oder Geräusche der Anwohner zu ihm drangen. An einem größeren Platz saß eine Gruppe junger Spanier, trank Wein und sang ausgelassen. Als er weiterging und erneut in eine kleine, kaum ein Meter breite Gasse einbog, verebbten auch deren Stimmen im Nirgendwo der Nacht. Dann aber schärfte ein Klang seine Sinne. Eine Geige. Unmissverständlich hörte er das feine Singen einer Violine. Sofort änderte er seine Richtung und ging zügigen Schrittes dorthin, wo er Johanna vermutete. Und tatsächlich. Dort saß sie, auf einem Mauervorsprung, die Alhambra in ihrem Rücken. Diesmal hatte sie viele Zuhörer.
Trotz der Traube von Menschen, die sich um Johanna gebildet hatte, bemerkte sie Benedikt sofort und warf ihm einen kurzen Blick zu. Sie hatte bestimmt schon eine ganze Stunde gespielt. Jetzt stand ihr der Sinn nach einer Pause. Sie beendete ihr Spiel. Die letzten Zuschauer legten noch etwas Geld in ihren Geigenkasten, obwohl sie nicht darum gebeten hatte. Sie bedeutete Benedikt mit einem Kopfnicken, dass er sich zu ihr setzen möge. Benedikt kam näher, er lächelte, wirkte aber auch verunsichert und setzte sich schließlich neben sie.
“Hörst Du denn schon auf mit deinem Spiel?”, fragte er.
“Ja, ich bin müde. Ich habe schon eine ganze Weile hier gesessen.”, erklärte Johanna.
“Magst du noch irgendwo ein Glas Wein mit mir trinken? Heute ist nämlich mein letzter Tag in Granada, musst du wissen.”, fragte er und wunderte sich dabei über sich selbst.
“Oh, das ist ja traurig.” Und nach einer Pause fügte sie hinzu: “Ja, natürlich. Wir können uns dort drüben an einen der Tische vor dem kleinen Restaurant an der Ecke setzen”, und zeigte dabei auf einen Platz hinter einer kleinen Kirche.
Johanna berichtete voller Begeisterung von ihrem Ausflug in die Alhambra und erzählte auch von ihrem musikalischen Erlebnis angesichts der reichhaltigen Verzierungen an den Wänden und Decken der Paläste. Während Benedikt ihr zuhörte, wusste er, dass er nicht mehr nur überleben wollte. Er wollte leben, und hier an ihrer Seite hatte er seit langem zum ersten Mal wieder das Gefühl zu existieren, sich nicht mehr nur im Kreis und um sich selbst zu drehen. Er war glücklich, sie heute Abend doch noch ausfindig gemacht zu haben. Johanna war über sich selbst überrascht. Lag es am Wein oder an der andalusischen Atmosphäre, dass sie so unbekümmert war? Wann hatte sie zuletzt so viel erzählt? Warum hatte sie Benedikt hier in Granada getroffen? Sie nippte abermals an ihrem Wein. Der Wind frischte ein wenig auf und ließ die Platanen über ihren Köpfen leise rascheln. Granada war erneut zur Ruhe gekommen, seine Lichter flimmerten in der Ferne, seine Bewohner waren längst zu Hause, vielleicht in ihren Ehebetten oder noch vor dem Fernseher, stritten oder vertrugen sich, waren eifersüchtig oder vertrauten einander, kränkten oder trösteten sich, glaubten einander oder bezichtigten sich der Lüge, waren einsam oder ihrer Familien überdrüssig, wollten neu anfangen oder sich niemals ändern.
“Magst du deine letzte Nacht mit mir in meinem Hotel verbringen?”, fragte Johanna unvermittelt. Benedikt musste nicht über seine Antwort nachdenken und nickte vorsichtig. Sie bezahlten die Rechnung und Johanna wies den Weg in Richtung des Hotels. Nach einigen Metern legte Benedikt den Arm um sie, doch sie hielt sich weiterhin nur an ihrem Geigenkasten fest. Am Hotel angekommen, öffnete der Nacht-Portier die Tür und würdigte sie dabei keines Blickes. Dennoch fühlte sich Benedikt etwas unwohl, obwohl er sich sagen musste, dass es dafür eigentlich keinen Grund gab. Das Hotelzimmer war klein, verfügte aber über ein Doppelbett. Benedikt setzte sich auf die dem Fenster zugewandte Seite des Bettes und zog seine Schuhe aus, während Johanna im Bad verschwand. Als sie wieder herauskam trug sie nur noch ein langes T-Shirt, sie roch nach geputzten Zähnen und verkroch sich sogleich unter der Bettdecke. Benedikt ging noch einmal kurz auf Toilette, machte das Licht aus, bevor er sich auszog und legte sich dann vorsichtig zu ihr, als müsste er befürchten, jederzeit wieder verstoßen zu werden.
“Mein erster Freund hat mir einmal gesagt, jeder von uns würde letztendlich immer allein sein und bleiben, alles andere sei Illusion”, begann Johanna. “Ich war damals verzweifelt, ich war so sehr in ihn verliebt und konnte nicht verstehen wie er sich dabei einsam fühlen konnte. Aber ist das nicht das Wesen der Liebe, dass sie die Vereinzelung von uns Menschen aufzuheben imstande ist? Nur in der Liebe können wir den Käfig verlassen, den unser Kopf und Körper um uns herum errichtet haben. In der Liebe identifizieren wir uns mit einem anderen Menschen als sei sein Schmerz unser, seine Freude unsere und sein Leben das unsere, wir überschreiten unsere Grenzen, treten aus uns heraus und wachsen über uns hinaus.” Sie war an Benedikt herangerückt, drückte ihren Rücken an seine Brust.
“Ja, Liebe ist selten gerecht. Meist ist sie sogar ziemlich ungerecht.”, sagte Benedikt. “Ich denke, dass mein Leben anders verlaufen wäre, wenn ich mich nicht so sehr verliebt hätte in die Frauen, die ich begehrt habe, wenn ich weniger selbstlos gewesen und statt dessen mehr ich selbst, ja egoistischer gewesen wäre. Oder war mein intensives Gefühl, mein Verlangen nach ihr gerade der unvermittelte Ausdruck meines überzogenen Egos und damit das genaue Gegenteil von Selbstlosigkeit? Wollte ich die Frau einfach nur besitzen und ihr auf charmante Weise meinen Willen aufzwingen? Bin ich - um sie zu erobern - lediglich über mich hinausgewachsen, um später im Verlauf der Beziehung auf meinen Kleinmut zurückzufallen, mein Machtstreben und meine Geltungssucht? Aber wozu dann das Ganze?” Benedikt legte seinen rechten Arm um sie und berührte ihre Schulter mit seiner Hand.
Johanna war zu müde, um noch etwas erwidern zu können. “Ich fühle mich jedenfalls mit dir nicht mehr so alleine.” Mit diesen Worten schlief sie ein. Sie schlief fest und atmete lautlos, doch von Zeit zu Zeit hob sich ihr Brustkorb wie in einem Seufzer, mit dem sie das Erträumte abschüttelte. Sein Gesicht berührte ihr Haar, es roch noch ein wenig nach ihrem Duschgel, doch vor allem nach ihr, süßlich, wie der Flieder im Garten seiner Eltern als er noch ein Kind war. Seine Augen waren geschlossen, doch er konnte nicht einschlafen. Ein plötzlicher Windstoß verwehte die Gardinen vor dem offenen Fenster, warme, trockene Luft strich über sein Gesicht als wäre der Levante in Granada angekommen, um ihn daran zu erinnern, dass es Zeit war zurückzukehren.
Benedikt hatte noch immer seinen Arm um sie gelegt. Doch jetzt wand er sich aus der Decke, angestrengt bemüht, sie nicht zu wecken. Im Halbdunkel der einbrechenden Dämmerung zog er sich an und schaute Johanna dabei noch einmal an. Ihr Gesicht war entspannt, ohne jede Anstrengung und wirkte fast kindlich. Sie kam ihm vollkommen schön vor und er spürte einen Stich in seinem Herzen. Wie gerne hätte er sie zum Abschied geküsst, doch dann hätte er sie vermutlich aufgeschreckt und überhaupt hatte er nicht das Recht dazu, fand er. Er ging leisen Schrittes zur Tür, drehte aber abrupt noch einmal um und suchte den Kugelschreiber auf dem Hotel-Schreibtisch. Auf einem Notizzettel notierte er seine Adresse in Tarifa und schrieb seinen Namen darunter. Dann verließ er endgültig das Hotelzimmer.
…
Eine Woche war seit seiner Rückkehr nach Tarifa vergangen. Benedikt saß am steinigen Strand der Caleta und sah gedankenversunken in die einlaufende Flut, die die Felsen vor ihm umspülte und wohl bald auch seinen Platz erreichen würde. Das Meer war ruhig, ungewöhnlich glatt und fast lautlos, es roch nach vermoderndem Seetang oder alten Muschelschalen, nicht unangenehm, aber intensiv. In der Ferne war Tanger auszumachen, seine weißen Bauten schimmerten in der abendlichen Sonne. Dazwischen schoben sich langsam und bedächtig Frachtschiffe aus aller Herren Länder durch die Meerenge. Wo war der Wind geblieben?, fragte er sich. Heute war einer jener windstillen Tage, die es nur ein paarmal im Jahr gab, meist, wenn der Wind seine Richtung änderte und zwischendurch eine Pause einlegte. Doch heute hatte schon den ganzen Tag eine ungewöhnliche Flaute geherrscht. Er schaute den Möwen zu, die sich das Futter gegenseitig abjagten oder übermütig einen Schwarzmilan vertrieben. Der Himmel war wolkenfrei und tiefblau wie fast das ganze Jahr über. Benedikt leckte sich das Salz von den Lippen.
Warum hatte er nicht nach ihrer Adresse in Berlin gefragt oder wenigstens ihrer Telefonnummer? Er bereute es, sich nicht richtig von Johanna verabschiedet zu haben. Was hatte er sich dabei gedacht, einfach so zu verschwinden? Schließlich hatte sie ihn in ihr Hotelzimmer eingeladen, sie musste doch wenigstens so viel Interesse an ihm haben wie er an ihr. Und dann diese kindische Idee, einen Zettel zu hinterlassen. Was, wenn sie ihn nicht einmal gefunden oder die Putzfrau ihn beim morgendlichen Aufräumen einfach weggeworfen hatte? Er ärgerte sich. Oder nein, vielmehr war er maßlos enttäuscht über sich selbst. Sollte er einfach nochmal nach Granada fahren und sie in dem Hotel suchen? Wie lange hatte sie vor dort zu bleiben? Er wusste es nicht. Nein, das wäre doch wohl zu viel des Guten. Es war wie mit dem nicht gegebenen Abschiedskuss. Er fühlte sich einfach nicht befugt, seine Zuneigung ihr gegenüber allzu deutlich zu zeigen. Er hatte auch nach wie vor nicht die Kraft dazu. Es war nicht mangelndes Selbstbewusstsein, es war die Einsicht in das eigene Unvermögen. Er musste sich damit abfinden, dass es eine Chance gab, die er mal wieder nicht genutzt hatte. Er würde damit leben können. Überleben.
Benedikt strich den Sand von seinen Füßen und zog sich die Schuhe wieder an. Langsam ging er nach Hause, nicht traurig, sondern eher gefasst, bereit für das, was ihn erwartete, entlang der Stadtmauer, die zuletzt vor zweihundert Jahren ihre Schuldigkeit gegen französische Truppen getan hatte und hinauf in die Neustadt. Als er um die Ecke in seine Straße einbog wäre er fast über einen Hund gestolpert. Er schaute dem Vierbeiner noch kurz hinterher, doch als er seinen Kopf wieder hob und in Richtung seiner Wohnung schaute, nahm er eine Gestalt war, die auf dem Treppenabsatz der Eingangstür saß. Es war eine Frau, die ihren überdimensionierten Koffer vor sich abgestellt hatte. Sie hielt einen Geigenkasten in ihrem Arm.
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